Tagebuch eines (verrückten?) Mannes

Mittwoch, 28. März

Ryan.
Das ist er also. Mein erster Eintrag in mein Tagebuch. Mein eigener Name.
Es ist genau 11:45 Uhr.
Ich weiß nicht, warum ich dieses Tagebuch gekauft habe. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, weiß ich noch nicht einmal, warum ich überhaupt etwas hineinschreibe. Ich habe noch nie ein Tagebuch geführt, noch nicht einmal, als ich ein kleiner Junge war. Ich werde nicht über die Träume schreiben – zumindest nichts Genaues. Ich werde meine Alpträume nicht zu Papier bringen.
NIEMALS!
Genug davon.
Falls es irgendjemanden interessiert: Letzten Montag bin ich 26 geworden. Ich habe meinen Geburtstag nicht gefeiert. Was soll ich sonst noch sagen? Schreibe ich dies in meiner schönsten Sonntagsschrift nur für mich selber oder für jemand anderen? Vielleicht für Eden? Nein – für Eden nicht. Ich liebe sie – zumindest glaube ich das, aber ich würde ihr niemals meine verworrenen Gedanken anvertrauen. Schreibe ich dies nicht doch nur für mich? Nun ja, zumindest teilweise, aber nur teilweise. Es ist auch für jemanden da draußen, der dies vielleicht in 50 Jahren, wenn ich schon tot bin, lesen wird.
Oder vielleicht für die Augen eines Fremden in einer weit entfernten Zukunft, einer anderen Epoche – in zehn‑ oder zwanzigtausend Jahren, wenn ich ein Niemand der Geschichte bin, ein weiterer, unwesentlicher Bestandteil auf einer archäologischen Liste.
Wer sind Sie überhaupt? Ich frage mich, wer Sie sind, fremder Leser.
Seltsam, ich hatte nicht vor, mich so gehen zu lassen. Ich fahnge VERDAMMT, mein erster Fehler, und das bereits so früh. Was ich gerade sagen wollte … Ich fange am besten mit heute an …
Ich habe in einem dieser alten Läden auf der Rackham Lane herumgestöbert, als ich auf einmal dieses alte, dunkelgrüne, in Kunstleder eingebundene Buch sah. Es hatte einen geprägten Einband in einem leicht verblichenen Goldton. Wie nennt man diese Verzierung doch gleich? Punzarbeit, glaube ich. Wie auch immer: Das Buch lag auf dem Regal und war bereits mit einer dicken Staubschicht überzogen. Es roch sehr alt, so alt, wie aus einem vergangenem Jahrhundert. Die Seiten im Buch waren so vergilbt wie alter Schnee, und sie schrien geradezu danach, beschrieben zu werden. Ich erinnere mich, dass das Buch neben einer dieser kleinen Glaskuppeln stand, in denen es schneit, wenn man sie schüttelt. Oje – warum schreibe ich überhaupt über solche Kleinigkeiten? Wen interessiert das schon? Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum ich das Buch überhaupt gekauft habe. Aber ich denke, wir alle tun manchmal Sachen ohne irgendwelche besonderen Motive zu haben, nicht wahr? Oder bilde ich mir das ein? Nein, ich glaube nicht, dass ich so anders bin.
Zusammen mit dem Buch habe ich mir eine Schreibfeder gekauft, eine mit diesen Spitzen, die man in ein Tintenfass stecken muss. Ein altes Schreibgerät für ein altes Buch. Völlig untypisch, würde Eden jetzt sagen, wenn sie hier wäre. Louis – er ist so etwas wie ein Freund – würde das Gleiche sagen. Das zeigt doch wieder einmal, wie viel Freunde und Lebensgefährten über einen selber wissen, oder nicht? Ich bin für meine Freunde so etwas wie ein lebenserfahrener Typ, was immer zur Hölle das auch heißen mag. Aber wir alle haben unsere versteckten Seiten, jeder einzelne von uns. Nein, der letzte Gedanke war nicht richtig … Mir sind gerade ein ganzer Haufen übler Kerle eingefallen, die mir in den letzten Jahren über den Weg gelaufen sind – und die hatten garantiert KEINE versteckten Seiten mehr.
Der Fernseher steht in der Ecke des Zimmers und ist eingeschaltet. Gerade erscheint einer dieser Idioten auf dem Bildschirm, einer dieser kommerziellen Rockstars in seinen späten Zwanzigern. Er trägt eine Uhr, die ungefähr so viel wert ist wie mein gesamtes Jahresgehalt. Ist das noch fair? Wenn Sie glauben, dass das noch fair ist, dann sind Sie entweder verrückt oder steinreich. Okay, einige dieser Interpreten sind ja noch ganz talentiert, aber dieser David Crane, der Säger der Band „Arachnophobie“, ist ganz bestimmt keiner von denen. Aber vielleicht sind Sie ja ein Fan und wollen mich jetzt mit einer Gitarrensaite erdrosseln. (Es ist schon seltsam: Ich schreibe dies, als ob es eines Tages jemand lesen würde. Vielleicht tun das ja alle Tahgeb Tagebuchschreiber. Ich weiß es nicht. Ich fange ja gerade erst damit an.)

Nun, es ist spät und in der Glotze läuft nichts. Das Bett sieht sehr einladend aus. Letzte Nacht habe ich davon geträumt, dass ich einen Mann ermordet habe …

Träume sind schon eine seltsame Sache.



Donnerstag, 29. März

Es ist 20:30 Uhr und alles ist okay. Die Arbeit ist zu Ende, für heute, und –
Nein, ich werde nicht über die Arbeit schreiben.
Ich sehe mich gerade in meiner Wohnung um. Es sieht unaufgeräumter aus als sonst, wenn man bedenkt, dass Eden in ca. einer Stunde hier sein wird. Sie versucht mich immer dazu zu bringen, aufzuräumen. Das Badezimmer sieht nicht allzu schlimm aus – ich kann direkt hineinschauen von meinem Schreibtisch am Fenster aus. Die Küchentür ist ebenfalls auf. Für meine Verhältnisse ist die Küche ziemlich aufgeräumt – ist ja auch kein Wunder. Alles, was ich darin benutze, ist die Mikrowelle. Man nennt mich auch den Mikrowellen‑Mann. Was mein Wohn‑ und Schlafzimmer angeht: Es sieht so aus, als hätte eine Horde wilder Studenten darin geschlafen. Flecken an den Wänden. Verstaubter Teppichboden. Der Teppich ist dekoriert von dreckigen Socken, leeren Bierdosen und Zigarettenkippen, die aus irgendwelchen Gründen nicht im Aschenbecher gelandet sind.
Oh‑oh! Ich habe gerade einen Gummi unterm Bett liegen sehen. Da ist er also hin. Ich bin gleich zurück …
Dah bin Da bin ich wieder. Die Wohnung sieht jetzt wesentlich aufgeräumter aus. Als ich den Gummi aufgehoben habe, konnte ich nicht mehr aufhören und habe mir den Rest auch gleich vorgeknöpft. Eden wird bald hier sein und sie muss doch den Eindruck haben, dass ich mich anstrenge. Hier sieht es immer noch aus wie auf einer Müllhalde. Sie wird nicht sehr beeindruckt sein. Ich habe sowieso nie verstanden, was sie an mir findet. Sie kommt eigentlich aus einer besseren Umgebung. Sie sollten mal ihre Wohnung sehen. Plüsch über Plüsch, soweit das Auge reicht. Allein von der Einrichtung weiß man, dass sie einen gut bezahlten Job hat. Es hat irgendwas mit Marktanalysen und PR zu tun. Ich frage Sie sie nie danach. Sie sagt mir immer, ich soll mir einen ordentlichen Job suchen. Ob ihr noch nie jemand gesagt hat, dass es fast keine ordentlichen Jobs mehr gibt? Billigen Fusel in Sparkys Bar zu verkaufen, ist auch nicht gerade mein Traumjob. Jetzt ist’s raus – ich hab’s doch gesagt – ich bin Barkeeper. Und Sparky ist mein Boss. Ein fetter, ungepflegter Typ. Einer dieser Kerle, die mit diesen lächerlichen Westen rumlaufen. Wissen Sie, was ich meine? Na klar wissen Sie’s.
Ich habe gerade vom Fenster aus auf die Straße gesehen. Das Fenster ist total verdreckt. Als ob Sie sich das nicht denken könnten. Es regnet und die Straßen sehen gelblich verschmiert aus von den Sodium‑Lampen, die als Beleuchtung dienen. Man kann eine Menge Gestalten in Regenmänteln auf der Straße sehen, alle auf dem Weg von irgendwo nach nirgendwo. Ich habe einmal gelesen, dass die meisten Leute ihr Leben in stiller Depression verbringen. Das könnte wahr sein.
Gott, ist die Wohnung leer, wenn Eden nicht da ist. Doch bald wird sie da sein, wird den Raum mit ihrem Duft, mit ihrer Stimme, mit ihrer Aura füllen. Sie hat versprochen, heute Nacht bei mir zu bleiben. Ich sehe schon ihren sanften, blassen Körper auf dem Bett. Ihre schwarzen Haare auf dem Kopfkissen. Wenn sie nackt ist, hat sie die Augen eines Kindes. Doch am nächsten Morgen, wenn sie sich anzieht, ist sie wieder jemand anderes. Manchmal glaube ich, Eden zu lieben. Manchmal nicht. Doch wenn sie nicht da ist, vermisse ich sie. Ich glaube aber, dass es vielen so geht.
Nun, für heute habe ich genug geschrieben. Bis morgen – oder was immer Tagebuchautoren als Verabschiedung auch schreiben mögen.

Ich bin‘s wieder. Es ist nach Mitternacht. Eden ist nicht gekommen. Sie rief an, hat sich entschuldigt, faselte irgendwas von wichtigen Terminen und einer Menge Arbeit. Ich sagte ihr, dass es mir nichts ausmachen würde. Ich bin ein guter Lügner, wenn ich will.
Zehn Minuten später kam Louis vorbei. Er kratzte sich an seinen frischen Einstichstellen am Arm und fragte mich, ob ich irgendwelche Drogen wollte. Ich habe das Zeug schon seit Jahren nicht mehr angerührt, aber er fragt mich immer wieder danach.
Louis für Eden.
Kein sehr guter Tausch. Er fing irgendwann an, über unsichtbare Spinnen zu labern und wischte sie sich von seinen Ärmeln. Ich musste ihn rausschmeißen.
Ich habe für eine Stunde ferngesehen. Es gab eine Sendung über Massenmörder. Nein, ich habe keinen Galgenhumor. Seit ein paar Monaten treibt ein Massenmörder sein Unwesen und versetzt die Stadt in Angst und Schrecken. Die Medien nennen ihn den „Dealer“, weil er diese Vorliebe für Spielkarten hat, und –
Nein, heute Abend werde ich nichts über den Dealer schreiben.
Es regnet immer noch, und die Straßen sind wie ausgestorben. In jeder Ecke sehe ich einen Schatten, der wie Eden aussieht.
Ich will nicht über die Träume schreiben.
Ich starre das Bett an. Es sieht nicht sehr einladend aus.



Freitag, 30. März
23:32 Uhr

Eden ist vor zehn Minuten gegangen. Sie kam völlig überraschend und meine Wohnung sah so schlimm aus wie noch nie. Das ist das Problem mit unangekündigten Besuchen. Hatten Sie auch schon einmal solche Probleme? Ich denke schon. Sie rümpfte Ihre ihre Nase und sagte, dass es hier sehr ungesund riechen würde. Ich hatte bis dahin nichts gerochen, was wahrscheinlich mehr über mich aussagt als über sie. Außerdem bemerkte sie die ganzen Spinnen, die seit ihrem letzten Besuch eingezogen waren. Und tatsächlich: Eine nicht unerhebliche Anzahl an Spinnweben hatte sich in den Ecken des Zimmers angesammelt. Aber fressen Spinnen nicht Fliegen und sonstiges Ungeziefer? Nun, jedenfalls habe ich das als Ausrede benutzt. Sie hat dann nichts mehr gesagt.
Ich liebe Eden.
Sie hat mir erzählt, dass ihre Eltern sie eigentlich Eva taufen wollten, sich aber dann für Eden entschieden haben – es war ungewöhnlicher. Das habe ich nie gewusst. Ich mag diese kleinen Details.
Der Sex war okay, was soviel bedeutet wie dass er nicht okay war. Bei Eden und mir war es bisher immer so, dass der Sex besser als nur okay war. Wie auch immer. Wir sind dann eingeschlafen. Schlechte Entscheidung.
Als ich aufwachte, schlug mein Herz so laut wie eine Bongo‑Ton Trommel und ich zitterte am ganzen Körper. Eden starrte mich mit weit aufgerissenen, angstgeweiteten Augen an. Sie sagte, dass ich im Schlaf gesprochen und geschrien habe. Ich hätte von Gott und dem Teufel geredet und von den sieben Schläfern – und von der Frau, die ich ermordet habe.
Meine Güte! Kein Wunder, dass Eden Angst hatte. Wir haben uns dann gegenseitig beruhigt, indem wir uns klarmachten, dass Träume nur Träume sind. Anschließend haben wir dann Kaffee gekocht und uns unterhalten. Irgendwann hat Eden dann den Fernseher angemacht. Noch eine schlechte Entscheidung. Es gab gerade eine neue Meldung über den Dealer. Er hatte eine Frau in ihrer Wohnung ermordet, keine zwei Blocks von meinem Appartement und ungefähr eine Stunde bevor Eden zu mir kam. Eden sah mich an. In ihrem Blick war kein Zeichen von Anschuldigung. Kein richtiges Zeichen von Angst. Einfach nur – dieser Blick. Ich wusste sofort, dass sie an die Blackouts dachte, die ich habe, seit ich ein Kind bin. Sie sagte jedoch kein Wort. Sie gab mir einen flüchtigen Kuss und ein halb‑herziges Lächeln und verschwand dann durch die Tür. Alles, was ich tun konnte, war die verschlossene Tür anzustarren und dem Geräusch ihrer Schuhe nachzuhören, während sie den Gang hinunterging.
Ich habe fast die ganze letzte Stunde aus dem Fenster geschaut. Der Regen hat etwas nachgelassen. Ich musste daran denken, dass irgendwo da draußen der Die Dae Dealer ist. Ich musste auch an die sieben Schläfer denken. Ich habe vor langer Zeit etwas über sie gelesen. Ich war einmal ein begeisterter Leser, bevor ich den Alkohol entdeckte und von der Uni flog. Vielleicht gehe ich morgen einmal in die Zentralbibliothek.
Vielleicht auch nicht.



Samstag, 31. März
02:15 Uhr

Okay, es ist eigentlich nicht mehr Samstag, aber es kommt mir noch wie Samstag vor. Alles klar?
Die Arbeit war die Hölle. Sparky hatte seinen schlechten Tag. Beides zusammen passte hervorragend. Eine Zwölf‑Stunden‑Schicht, die irgendwann vor zwei Uhr morgens zu Ende war. Ich habe die ganze Zeit nicht einen Tropfen getrunken. Sparky war den ganzen Abend hinter mir her, hat mir die Ohren vollgejammert über meine unmotivierte Einstellung und die Art, wie ich die Gläser waschen würde und dieser ganze Scheißdreck. Ich habe aber alles in mich hineingefressen und nichts gesagt. Ich brauche das Geld.
Ich habe Eden fünf‑ oder sechsmal von der Arbeit aus angerufen, immer wenn Sparky gerade mal nicht da war, und habe Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich glaube, ich brauche Eden mehr als dass ich sie liebe.
Ich muss die ganze Zeit an Religion denken.
Der Dealer hat heute Nacht niemanden umgebracht.
Ich bin nicht zur Bibliothek gegangen.



Sonntag, 1. April
11:20 Uhr

Letzte Nacht ist mir Gott erschienen und hat mir gesagt, dass ich Leute umbringen soll. Er sah aus wie der Weihnachtsmann und hatte eine dunkle Sonnenbrille auf. Cool, Mann!
Vielleicht war es so etwas wie ein Aprilscherz. Vielleicht hat Gott einen schwarzen Sinn für Humor? Wissen Sie es?
Es war nur ein Traum, sage ich mir immer wieder. Nur ein Traum.
Ich schreibe dies in einer Bar. Nicht in Sparkys Bar. Ich trinke niemals in Sparkys Bar, zumindest nicht auf der anderen Seite des Treh Tresens. Ich habe bereits meinen ersten Whiskey hinter mir. Hoffentlich bin ich bald besoffen. Die Erinnerungen an Eden haben sich gesammelt und mich erschlagen. Jetzt sitze ich hier, mit einem Glas in der einen und der Feder in der anderen Hand und lasse all die vergangenen Jahre Revue passieren. Ich sehe, wie Eden sich gegen das Geländer am Haupteingang der Uni lehnt, in einem blauen Regenmantel und dem gelben Schal. Ich hatte sie schon vorher bemerkt, aber dieses Mal hatte sie mich angelächelt. Ihr Lächeln ist wie – wie der Garten Eden. Ich kann es nicht besser ausdrücken. Dieses Lächeln begleitet mich schon seit Monaten, seit Jahren auf ihrem Weg nach oben und meinem Weg nach unten.
Wenn ich nur nicht immer diese Blackouts hätte – Jetzt fange ich schon wieder damit an. Ausreden. Selbstmitleid. Der Grund, dass ich ein Verlierer bin, ist der, dass ich die Karten, die mir gegeben wurden, schlecht ausgespielt habe und nicht, dass ich schlechte Karten bekommen hätte.
Es hat wieder angefangen, zu regnen. Ich sehe den Pfützen dabei zu, wie sie größer werden. Auf meinem Tisch stehen eine Menge leerer Gläser. Ich weiß nicht, wo die alle herkommen. Eden hat nicht auf meine Anrufe reagiert. Vielleicht ist das der Grund, warum ich das Mädchen an der Bar anstarre. Ihr Gesicht ist von Make‑up überzogen, leuchtender Lippenstift auf ihren Lippen. Sie sieht billig aus – und ich meine pro Stunde.
Manchmal sehnt man sich nach Geborgenheit. Auch wenn es bezahlte Geborgenheit ist.

22:56 Uhr

Sie ist vor etwa einer Stunde gegangen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als mein Kater nachgelassen hat. Ihr Name war Angel, sagte sie. Und für eine gewisse Zeit war sie ein Engel für mich – ein Schutzengel. Sie war außerdem mein Priester für die Beichte. Ich habe ihr alles gesagt. Dinge, die ich noch nicht einmal wage, zu Papier zu bringen. Alles. Sie hat mich nicht verurteilt. Sie hat mich nicht verdammt. Oh, sicher, ich weiß, warum – es war ihr SCHEISSEGAL! Aber das macht nichts. Ich fühle mich – erlöst, so blöd sich das auch anhört. Ich weiß nicht, was sie gefühlt hat – wenn überhaupt. Sie hatte auf ihrem ganzen Körper verteilt blaue Flecken, einige sahen aus wie Blutergüsse. Ich fragte sie, wo sie die her hatte. „So was kommt mit dem Beruf“, sagte sie. „Der Kunde bekommt, wofür er bezahlt.“ Angel trug ein kleines Vermögen in Form einer Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Ich erkannte die Uhr wieder. Es war die von David Crane. Genau die Uhr, die er bei dieser Show anhatte, die im Fernsehen lief. Als ich sie ansehen wollte, sagte sie mir nichts – Schweigepflicht nannte sie es – aber ihr Gesichtsausdruck hat mir alles verraten. Die Uhr war von Crane, dem Rock‑Idol und dem Liebling der Fernsehsendungen. Die blauen Flecken waren auch von ihm.
Ich musste ihr mein letztes Geld geben. Es kümmerte sie nicht.
Ich möchte Angel wiedersehen.
Ich weiß, dass das nicht passieren wird.

23:12 Uhr

Eden hat gerade angerufen und gefragt, ob ich möchte, dass sie vorbeikommt.
Ich wollte sie nicht sehen.
Ich sagte ihr, sie könne gleich rüberkommen.



Montag, 2. April
23:23 Uhr

Als ich gestern mit Angel geschlafen habe, musste ich fast überhaupt nicht an Eden denken. Ich liebe Angel nicht.
Als ich letzte Nacht mit Eden geschlafen habe, musste ich die ganze Zeit an Angel denken. Ich liebe Eden.
Das Leben ist wie ein Song von Leonard Cohen. Wir reden verschlüsselt, weil wir in Rätseln denken. Kaum war Eden durch die Tür gekommen, fragte sie mich nach meinen Blackouts. Sint Sind sie schlimmer geworden? Ich habe einfach irgendetwas vor mich hingemurmelt. Sie hat mich an die Hand genommen und mich auf mein Bett gesetzt.
Sie lächelte mich an, und es war dieses typische Eden‑Lächeln, ein Lächeln wie ich es vor Jahren schon einmal gesehen hatte, als wir noch im ersten Semester waren. In diesem Moment waren mir zwei Dinge klar:
Ich würde nie jemanden so lieben können, wie ich Eden jetzt liebe, und ich bin der letzte Mann, den Eden als Lebensgefährten verdient hat. Es ist nicht nur so, dass sie eine Gewinnerin ist und ich ein Verlierer bin. Ich bin nicht stolz. Damit kann ich nicht leben. Nein, es ist viel mehr als nur das – in einem dieser seltenen Momente von Erleuchtung wurde mir klar: Ich bin der Tod. Ich konnte nicht die Worte finden, um es ihr zu erklären. Ich versuche noch immer, die Worte zu finden, um diese Erleuchtung zu erklären. Was soll ich sagen? Dass ich der Tod bin, der Sensenmann in Person? Nein, so ein großes Tier nicht. Vielleicht auf eine bestimmte Art. Vielleicht eher eine Art „selektiver Tod“, was auch immer das heißen mag. Und ich bin außerdem ein toter Mann, obwohl ich nicht genau weiß, was ich damit meine. Diese Erleuchtung kann man einfach nicht in Worte fassen und dabei belassen wir’s. Nach einer Woche verstand ich, was Eden mir sagen wollte. Sie redete wie ein Liebesengel.
Sie erzählte mir von Vertrauen. Nicht das Vertrauen wie das Vertrauen in die Kirche oder in die Bibel, sondern menschliches Vertrauen, das Vertrauen zwischen zwei Liebenden. Eden sagte, dass es ihr leid tut, dass sie mir nicht vertraut hatte. Dass sie mich verdächtigt hatte, anderen Leuten wehgetan zu haben. Ihr war zwar bewusst, dass ich diese Blackouts hatte – im Laufe der Jahre hat sie sie schließlich oft genug mitbekommen – aber in all den Jahren habe ich noch nie jemanden verletzt, während ich aus dieser Welt abgedriftet war. Sie legte ihre Arme um mich, in der festen Überzeugung, ich könnte nie jemandem weh tun.
Sie irrte sich, aber ich sagte nichts.
Irgendwie endete die ganze Sache dann im Bett. Das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen komisch an, aber es kam mir wirklich wie ein Film vor – einfach von einer Szene zur nächsten, ohne Übergang.
Ein ganzer Strom furchtbarer Gedanken und Ängste raste mir durch den Kopf. SIE SCHLÄFT MIT DEM TOD, dachte ich. Meine Liebe wird sie umbringen.
Aber was zur Hölle sollte ich denn tun?
Ihr sagen, dass ich Kopfschmerzen hätte?
Also dachte ich an Angel, während mein Körper mit Eden beschäftigt war. Angel war aus irgendeinem Grunde immun. Der Tod konnte ihr nichts anhaben. Ich WEISS, das hört sich verrückt an, aber …
Irgendwann, tief in der Nacht, schliefen wir dann ein. Und natürlich kamen die Träume wieder.
Sie rüttelte mich frühmorgens wach und ihr Gesicht war so blass wie das Licht der aufgehenden Sonne. Ich hätte wieder im Schlaf gerette geredet, sagte sie. Ich hätte im Schlaf geschrien, so als würde ich in der Hölle schmoren. Sie fragte mich, wer der „Erlöser“ sei. Der Name jagte mir einen Schauer über den Rücken, auch wenn ich nicht genau wusste, warum.
Nachdem Eden gegangen war, lag ich einige Stunden lang auf dem Bett und zählte die Risse in der Decke. Plötzlich spielte mein CD‑Spieler „SYMPATHY FOR THE DEVIL“ ab und ich rannte so schnell ich nur konnte aus meiner Wohnung. Falls Sie sich fragen sollten, warum ich mich so erschrocken habe: Ich besitze keine einzige CD der Rolling Stones.
Bevor ich heute zur Arbeit gegangen bin, schaute ich bei der Bücherei vorbei. Ich habe vier Bücher über Religion und Mythologie ausgeliehen. Danach bin ich ziellos umhergelaufen, auf der Suche nach einer alten Kirche, einer leeren Kirche. Fragen Sie bitte nicht, warum. Ein seltsames Bedürfnis? Wer weiß? Ich fand mich irgendwann in einer schlimmen Gegend wieder, oberhalb der italienischen Stufen. Enge, verwinkelte Gassen – kaum was vom Himmel zu sehen. Ich ging an einem schwarz angestrichenen Fenster vorbei und betrat einen kleinen Platz mit einem ausgetrockneten Brunnen in der Mitte. Dann sah ich sie – die Kirche.
Es war eines dieser grauen, neugotischen Gebäude, mit verschmutzten, großen Fenstern. Das Schild neben der Tür war vom Wind und vom Wetter ganz schön mitgenommen. Der Name der Kirche war jedoch klar zu lesen: ST. SEPTIMUS.
Ich näherte mich der Eingangstür – und wäre auch beinahe hineingegangen – als ich mich plötzlich umdrehte und wegging. Als ich dann endlich bei Sparkys Bar angekommen war, brüllte er mich mal wieder an, weil ich eine Stunde zu spät war. Ich kann es ihm nicht einmal übelnehmen, dem stinkenden Schwein. Wenn ich das nächste Mal auch nur eine Minute zu spät bin, wird er mich feuern. Ich werde es verkraften.

Ich habe die Bücher noch nicht gelesen.
Ich habe ein wenig ferngesehen.
Der Erl Dealer hat heute niemanden umgebracht.
Ich habe Angst davor, schlafen zu gehen.



Dienstag, 3. April
09:27 Uhr

Ich habe eine Entscheidung getroft getroffen. Eine ENDGÜLTIGE Entscheidung. Seit ich dieses Tagebuch angefangen habe, hat sich meine Lage immer weiter verschlechtert. Vielleicht werden die Dinge nur schlimmer, wenn man sie niederschreibt. Ich weiß es nicht. Ich werde versuchen, für ein paar Tage, vielleicht eine Woche, nur ein paar kurze Notizen jeden Tag zu machen. Ich werde mir nicht die Mühe machen, die Bücher aus der Bibliothek zu lesen.
Letzte Nacht kam es wieder.

23:36 Uhr

Der Dealer hat heute Abend jemanden umgebracht.



Mittwoch, 4. April
22:50 Uhr

Mein freier Tag.
Eden hat angerufen. Ich hab ihr gesagt, dass ich Schlaf nachzuholen habe und dass sie besser nicht anruft. Sie ist ohne mich besser dran.
Louis kann kam irgendwann und hat an der Tür geklopft. Ich hab ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren. Ich bin ohne ihn besser dran.

Die Träume sind immer noch da.
Der Erlö Dealer hat heute niemanden getötet.



Donnerstag, 5. April
23:26 Uhr

Habe letzte Nacht nicht geschlafen.
Auf der Arbeit ist mir ein Glas kaputt gegangen, aber Sparky war nicht da.
Eden hat angerufen. Ich sagte ihr, ich hätte viel zu tun.
Keine Morde.
Werde ich heute Nacht wieder wachbleiben.





Freitag, 6. April
23 0:15 Uhr

Bin wachgeblieben.
Habe noch kein einziges Buch gelesen.
Id Eden hat angerufen. Ich sagte ihr, sie soll mich für ein paar Tage anr nicht anrufen.
Keine Toten.
Ich muss schlafen.
Irgendwas passiert mit der Elt Eletz Elektrizität.

Der Tod hat an meine Tür geklopft, aber ich habe ihn nicht hehr hereingelassen.
Bin doch nicht verrückt.





Samstag, 7. April

Habe bis nachmittags geschlafen. Die Träume werden schlimmer, kommen näher.
Nichts Neues vom Dealer.
War bei der St.‑Septimus‑Kirche. Bin nicht reingegangen.
Eden hat nicht gerufen angerufen.
Die Lichter gehen von alleine an und aus.

Habe zu Angel gebetet, bevor ich ins Bett gegangen bin. Sie hat mich mit einem Ave Maria in den Schlaf gesungen.

Erlöse uns von dem Bösen.

AN, AUS. AN, AUS.



Sonntag, 8. April

Träume sind immer noch grauenhaft.
Nicht sicher, ab ob Ih ich wach bin.
Habe zwei Stunden lang den Lichtschalter beobachtet. Er hat kein Wort gesagt.
Überall sind SPINNEN.
Der Erlöser hat heute eine FRAU getötet.





Sonntag 8. Ap
Montag, 9. April

Die Uhr läuft immer weiter. Sie sagt mir nicht, wie wie spät es ist.
Der Weihnachtsmann hat mir eine Pistole gegeben.
Sende die Kinder des Krieges aus.
Ich bin letzte Nacht gestorben.



Dienstag, 10. April

Heute war kein guter Tag.





Mittwoch, 11. April

Mein Name ist Ryan und ich glaube, ich werde verrückt.

Ich sitzt sitze hier an meinem Tisch in meiner Wohnung und schreibe langsam. Und vorsichtig. Gestern unternahm ich einen Schritt, der mich entweder total verrückt gemacht hat oder meine Rettung war. Ich bin mir noch nicht schi sichr sicher. Gestern habe ich akzeptiert, dass das Unmögliche, das Unfassbare, wahr sein kannt kann. Dass der Weihnachtsmann keine Einbildung ist.
Nein. Das ist es nicht. Konzentriere dich, Ryan.
Konzentriere dich.
Ich habe die Bücher gelesen. Ich glaube, es ist Abend. Ja – es ist dunkel draußen.
Mein Gott, in meiner ganzen Wohnung sind Spinnen – überall. Im Wohnzimmer, in der Küche, im Badezimmer, überall. Überall. Netze, die sich im Wind bewegen … Kann mich nicht qo konzentrieren.
Ich glaube, ich habe seit einer Woche nichts mehr gegessen. Die Wohnung stinkt. Ich stinke. Dieses ganze Zeug, was ich in der letzten Woche überall hingeschrieben habe – Ich muss total übergeschnappt gewesen sein. Ich habe diese vier Wände schon seit einer Woche nicht mehr verlassen – glaube ich zumindest. Ich weiß es nicht genau.
Ich werde Ihnen die Wahrheit erzählen, wenn ich meine Gedanken für eine Minute ruhig halten kann. Sie sind wie kleine Jungs, die auf einem Spielplatz spielen. Ich habe Ihnen noch nicht von meinen Gem Geheimnissen erzählt, zum zumindest nicht, seit ich dieses Tagebuch besitze. Wenn Sie dies lesen, dann wissen Sie wol wohl auch, was ich mit dem Einband gemacht habe. Ich habe einen Titel in den Kunstlederband geschnitten. Ich habe lange dafür gebraucht, weil ich die Wörter mit meinen Fni Fingernägeln ausgeritzt habe. Meine Finger haben ziemlich geblutet, daher die Flecken Blut und Haut. Ich habe den Titel TAGEBUCH EINES VERRÜCKTEN MANNES eingeritzt. Vor einer Stunde musste ich daran denken, was sein könnte, wenn ich doch nicht verrückt bin. Also habe ich wieder Gebrauch von meinen Fingernägeln gemacht und das VERRÜCKT eingeklammert und ein Fragezeichen dahinter geritzt. Meine Nägel sind ziemlich am Ende. Das ist also die Geschichte, die hinter dem Titel steht.
Jetzt erzähle ich Ihnen die Geschichte der Geschichte.
Gott hat nicht zu mir gesprochen. Der Weihnachtsmann, BLUT auf seinem Bart.
Nein – ich werde wieder verükt verrückt. Ich muss raus aus dieser Wohnung. Essen. Ich werde spätt später weiterschreiben. Muss raus. Zur Kirche.
Kirche.

0:15 Uhr

Für Im Moment bin ich wieder normal. So normal ich noch sein kann. Diese Anflüge von Normalität dauern meistens nicht sehr lange. Ich beeile mich deshalb mit dem Schreiben, solange ich noch fast alle Tassen im Schrank habe.
Ich bin vor drei oder vier Stunden rausgegangen. Ich muss etwas gegessen haben – mein Bauch fühlt sich voll an. Ich bin zur Kirche gegangen – zu St. Septimus. Als ich die italienischen Stufen hinaufging, hörte ich auf einmal Schritte hinter mir. Zuerst habe ich sie nicht bemerkt, es gab ja keinen Grund. Als ich dann aber über eine Stufe stolperte und stehenblieb, da hörten die Schritte auf einmal auf. Ich drehte mich um und spähte in die Dunkelheit. Ich konnte nichts sehen. Wer immer sich auch dort aufhielt, die Dunkelheit verbarg ihn. Ich ging weiter. Die Schritte fingen wieder an. Ich hielt an. Die Schritte hörten auf. Ich setzte meinen Weg fort. Die Schritte folgten mir. Genau wie in einem Film.
Einbildung, sagen Sie? Die wirren Illusionen eines Verrückten? Das glaube ich nicht. Sie waren nicht da. Sie wissen noch nicht, was dann passiert ist.
Die Eingangstür von St. Septimus war offen. Weit geöffnet. Zuerst dachte ich, da wäre so etwas wie eine Mitternachtsmesse, aber dann sah ich, dass die Lichter nicht an waren. Als ich hineinging, bemerkte ich die unglaubliche Anzahl von brennenden Kerzen, die alle auf dem Altar, auf den Kerzenständern und an den Füßen der Statuen standen. Keine Menschenseele in Sicht und überall brennende Kerzen. Welche Kirche lässt die Eingangstür sperrangelweit offen stehen, mitten in der Nacht, ohne Licht und nur mit brennenden Kerzen? Ergibt das für Sie einen Sinn?
Ich weiß, dass ich in diesem Moment nicht verrückt war. Ich bin mir ABSOLUT SICHER.
Wenn man sich in einer Kirche befindet, bewegt man sich leise, oder? Ich bin sehr leise das Mittelschiff hinuntergegangen, immer die Augen auf den Altar gerichtet. Plötzlich hörte ich gedämpfte Schritte hinter mir.
Ich drehte mich blitzschnell um und im selben Augenblick erloschen alle Kerzen im hinteren Teil der Kirche. Die beiden Kerzenständer waren mehr als zehn Meter auseinander, jeder auf einer Seite der Eingangstür. Und die Kerzen sind alle gleichzeitig ausgegangen. Wer immer sich in der Dunkelheit aufhielt – er hatte alle Kerzen zur gleichen Zeit gelöscht.
Dann dachte ich, dass sich dort vielleicht zwei Personen aufhalten würden. Aber zwei Personen, die sich in absolutem Einklang bewegen und zur gleichen Zeit ungefähr zwanzig Kerzen auf einmal löschen können und all das in einer Mikrosekunde, das war ungefähr genauso ein verrückter Einfall wie der Gedanke an einen Mann, der eine Spannweite von zehn Metern mit beiden Armen erreichte.
Ich stand einfach nur neben den Stufen zum Altar und wartete darauf, dass sich jemand bewegte, etwas sagte oder einfach nur atmete …
Nichts.
Die Warterei wurde zu viel für meine zerrütteten Nerven.
„Ist da jemand?“, rief ich in die Dunkelheit. Warten ließ die Antwort auf sich, wie ein Poet jetzt vielleicht sagen würde. Aber ich hatte dieses starke Gefühl, von einer – wie soll ich sagen – BÖSEN MACHT. Ja, so etwas wie eine böse Macht hielt sich in der Dunkelheit der Kirche auf.
Ich gebe zu, dass ich Angst hatte. Vielleicht glauben Sie, dass Sie keine Angst gehabt hätten. Aber Sie waren ja auch nicht dabei. Ich zögerte, unsicher, ob ich angreifen oder mich zurückziehen sollte.
Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es wäre mir schon vorher aufgefallen, wenn mich diese Woche in meiner Wohnung nicht so geschwächt hätte.
Es gab dutzende von Kerzen im restlichen Bereich der Kirche. Mehr als genug, um auch den Bereich um den Eingang zu erhellen. Wie es immer in diesen billigen Groschenromanen geschrieben steht: Eine blasphemische, trügerische Stille lag in der verdunkelten Luft. Sagen wir einfach, dass der hintere Teil der Kirche so schwarz war wie die Sünde selbst.
Zu diesem Zeitpunkt schmeckte ich zum ersten Mal Blut auf meiner Zunge.
Durch Angst kannst du zum Helden werden oder zum Feigling. Dieser Anflug von Schrecken trieb mich dazu, anzugreifen. Wenn ich nur eine Sekunde gezögert hätte, wäre ich wahrscheinlich in die andere Richtung gelaufen.
Ich rannte direkt auf die Dunkelheit zu und schrie mir die Lunge aus dem Hals. Ich weiß nicht mehr, was ich geschrien habe. Irgendwelche Flüche, nehme ich an. Die Dunkelheit teilte sich in dem Moment, in dem ich in sie hineinrannte. Ich erhaschte einen Blick auf eine Gestalt zu meiner Rechten, die den Gang hinunterfloh. Und dann sah sah ich einen Mann, der durch den Torbogen des Eingangs ins Freie rannte. Als ich draußen ankam, war er bereits verschwunden.
Aber dieses Bild hatte sich in meinen Verstand gebrannt. Als ich wieder zu Atem gekommen war, konzentrierte ich mich auf dieses Bild und den kupferartigen Geruch von Blut, der mit dem Bild in meinem Kopf hängen geblieben war. Vor meinem geistigen Auge konnte ich sein Gesicht genau sehen.
Ja, mein Verstand funktioniert völlig normal. Ich kann seine Klarheit spüren, wenn ich dies hier schreibe. Ich hoffe nur, dass meine Normalität lange genug anhält, damit ich Ihnen alles erzählen kann, was ich weiß.
Ich habe sein Gesicht gesehen, und das Blut gerochen. Aber es gab noch ein weiteres Detail. Sein Anzug war, sofern ich das erkennen konnte, dunkel und unauffällig, aber etwas ragte aus seiner übergroßen Brusttasche heraus. Eine Spielkarte. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es war die Herz‑Dame. Die riesige Brusttasche sah so aus, als würde sie jeden Moment platzen. In diesem Moment habe ich das jedoch nicht richtig zur Kenntnis genommen.
Erst als ich wieder zuhause war und den Fernseher eingeschaltet habe.
Nach etwa zehn Minuten kamen die Nachrichten. Der erste Beitrag war über den Dealer. Er hatte ein weiteres Opfer gefunden. Eine Frau mittleren Alters namens Lisa Carrack, Mutter von drei Kindern. Er hatte ihr das Herz herausgeschnitten und ein anderes, das Herz seines vorherigen Opfers, zusammen mit einer Spielkarte in ihren Brustkorb gestopft. Die Pik‑Dame. Die Frau war eine Schwarze. Schwarz ist wohl auch der Sinn für Humor des Dealers. Ort des Mordes war die Gegend um die italienischen Stufen.
In diesem Augenblick ist mir die große Brusttasche wieder eingefallen. Groß genug für jede Art von Herz. Und was die Karte betrifft:
Die Herz‑Dame war für sein nächstes Opfer. Vielleicht für eine Frau, die Liebe verkauft? Angel?
Nein – es könnte jede beliebige Nutte sein.
Ich wartete über eine Stunde bis ein weiterer Bericht gesendet wurde. Ein weiteres Opfer wurde im Ostteil der Stadt gefunden: Julia Rivelo. Ihr Herz war gegen das von Lisa Carrack ausgetauscht und auch in ihrem Körper steckte eine Spielkarte. Die Herz‑Dame, die Visitenkarte des Dealers.
Zusammen mit dem Gefühl von Übelkeit – und Sympathie – überkam mich ein starkes Gefühl der Erleichterung. Erleichterung darüber, dass ich nicht der Dealer bin. Als meine Gedanken immer verrückter wurden und die Blackouts immer häufiger auftraten, da befürchtete ich schon, selbst der Dealer zu sein. Eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Hatten Sie nicht auch schon daran gedacht? Zumindest für einen Moment? Aber ich hatte noch einen Grund, aufzuatmen. Die Stimmen in meinen Träumen sind bestätigt worden. Sie hatten mir auch schon genau erklärt, was ich zu tun habe.
Ich soll dieses Schwein umbringen.
Oh ja, ich hatte ihn vorher schon gesehen, in meinen Träumen, schreckliche Träume. Manchmal habe ich ihn getötet. Manchmal hat er mich getötet. Doch jedes Mal, wenn wir uns in den Träumen begegnet sind, war der Tod allgegenwärtig. Nun, Dealer, ich habe neue Karten für dich. Die Tarot‑Karten. Die höchste Karte ist der Tod. Und Tod ist außerdem der Name des Spiels.
Es gibt Zufälle und es gibt Zufälle, und die Ereignisse von heute Abend waren zu ungewöhnlich, um unter die Sparte „Seltsame Zufälle“ zu fallen. Irgendetwas hat mich zu St. Septimus geführt.
Ich weiß, dass psychotische Mörder Stimmen hören, Befehle aus ihren Träumen, die ihnen auftragen, für Gott oder den Teufel zu töten. Das ist genau das, was mich die letzten Tage so erschüttert hat.
Aber die Sache ist anders. Das ist so, als ob man mir sagt, dass ich Napoleon töten soll.
O Gott, bin ich müde. Ich muss meine Kräfte wiederfinden.
Heute Nacht werde ich keine Angst davor haben, einzuschlafen.
Morgen werde ich die Jagd beginnen. Nor Nur wo? St. Septimus?
Ja, St. Septimus.



Donnerstag, 12. April
23:05 Uhr

Es ist kurz nach elf und mir geht es gar nicht gut.
Ich habe gerade das gelesen, was ich letzte Nacht geschrieben habe. Welch selbstsichere Worte! Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, obwohl ich immer noch mit beiden Beinen in der Realität stehe.
Ich bin zu St. Septimus gegangen, aber ich bin bei jedem Schritt von einer Zahl verfolgt worden. Die Zahl Sieben. Nein, ich bin nicht abergläubisch. Es ist etwas aus einem meiner Träume. Aus dem Todestraum. Ich glaube, man befiehlt mir, mehr Menschen zu töten – zu exekutieren – als nur den Dealer.
Die Bücher aus der Bibliothek – nachdem ich sie endlich gelesen habe – haben einen Teil in meinem Unterbewusstsein berührt, verschwommene Bilder eines vergangenen Traumes. Ich sah die sieben Todsünden in menschlicher Form und alle tragen sie Masken. Was die sieben Schläfer von Ephesus angeht, die legendären christlichen Märtyrer, welche in tiefem Schlaf auf ihre Auferstehung warten – da bin ich mir nicht so sicher. Das könnte etwas bedeuten. Könnte aber auch nichts bedeuten. Vielleicht kommt es nur auf die Zahl Sieben an. Es ist immerhin eine dieser heiligen Zahlen …
Sieben Tage in der Woche. Sieben Meere. Die sieben Todsünden. Sieben Bräute für sieben Brüder?
Ha Ha – sehr lustig!
St. Septimus war am Tage genauso verlassen wie in der Nacht. Ich saß für ungefähr eine Stunde in der ersten Reihe, danach habe ich die Kirche durchsucht – ohne irgendwas zu finden. Ich versuchte, die Tür zur Sakristei zu öffnen, auf der Suche nach dem Priester, aber sie war verschlossen. Ich fing allmählich an, mir Gedanken über den Priester von St. Septimus zu machen. Warum ließ er seine Kirche unbeaufsichtigt?
Ich fühlte mich, als würde ich in dieser Kirche beobachtet. Ich weiß, dass dies eines der ältesten Gefühle in der Geschichte der Menschheit ist, meistens auch unbegründet. Aber ich hatte dieses unbeschreiblich starke Gefühl, von irgendjemanden oder irgendetwas beobachtet zu werden. Um genau zu sein: Ich hatte das Gefühl, dass sogar die Statuen mich anschauten.
Es waren ziemlich seltsame Statuen … Ein blinder Erzengel mit gebrochenen Flügeln. Ein Heiliger mit einem Heiligenschein über seinem Kopf. Ein Wesen mit zwei Köpfen.
Erst nach längerer Zeit erkannte ich die Motive in den verdreckten Fenstern und ich brauchte noch eine weitere ganze Weile, um die Bedeutung hinter jedem der Bilder zu verstehen. Alle hatten ein zentrales Thema: Himmel und Hölle. Natürlich, denken Sie jetzt vielleicht. Ich befand mich ja auch in einer Kirche. Das Ungewöhnliche war nur, dass der Himmel im unteren Teil des Bildes war und die Hölle im oberen. Die Hölle auf den Himmel hinab. Die Dämonen herrschten über die Heiligen.
Gott und die Kirche von St. Septimus verstehen sich anscheinend nicht besonders gut. Aber all diese grotesken Eindrücke verschafften mir keinen Hinweis auf den Dealer.
Ich setzte mich neben den Altar, kurz davor, frustriert aufzugeben, weil ich bis dahin nicht EINEN EINZIGEN Hinweis gefunden hatte. Auf einmal fiel es mir ein. Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz. Der Hinweis steckte im Namen:
St. Septimus.
Septimus: Sieben.
Wieder diese Zahl.
Den Dealer töten – dafür würde ich sogar die Rolle von Gott übernehmen. Ob richtig oder falsch, ich würde es tun, wenn dadurch weitere Opfer gerettet würden. Aber wenn ich hierfür noch sechs weitere Menschen töten sollte …
sieben Morde …
Nein, auf keinen Fall. Das würde mich ebenfalls zum Massenmörder machen.
Ich werde es nicht tun.
Niemals.
Mir ist gerade was eingefallen – morgen ist Freitag, der 13. Ich bin nicht abergläubisch, aber …
Meine Nachttischlampe ist soeben von alleine ausgegangen.
Das Bett ist wie eine Fallgrube, die nur darauf wartet, dass ich hineinstürze.
Auf dem Kissen sitzt eine Spinne.



Freitag, 13. April
15:15 Uhr

Heute Morgen habe ich den Verstand verloren. Ich hatte große Mühe, ihn wiederzufinden. Es ist nähergekommen – das Wesen aus dem Traum, die Gestalt, von der ich dachte, sie wäre der Weihnachtsmann, als meine Sinne am Boden lagen.
Er trägt einen roten Umhang. Einen roten Umhang mit Kapuze. Und da hören die Gemeinsamkeiten mit dem guten, alten Weihnachtsmann auch schon auf. Ich glaube nicht, dass mir dieser Typ irgendwelche Geschenke bringt.
Eine unheimliche Aura umgibt ihn. Unmenschlich. Gefühllos. Vielleicht ist er letzten Endes doch der Teufel. Seine Stimme war fest, so wie die einer Warnglocke auf einer Insel vor der Küste. Er sagte, er würde mich heute Abend besuchen. Ich verstand noch zwei weitere Worte:
Arachne … Erlöser …
Ich schaue zu den Spinnen in meinem Zimmer, die Ansammlungen von Spinnweben. Ich glaube, ich weiß, wofür Arachne steht.
Was die Identität des Boten Erlösers angeht, so glaube ich, dass ich nur in den Spiegel schauen muss, um dieses Rätsel zu lösen.
Die Glühbirne geht an und aus. Wenn das so weitergeht, wird sie die Geschwindigkeit eines Stroboskops erreicht haben, bevor es Mitternacht ist. Die Mikrowelle ist gerade von alleine angegangen. Ich glaube, ich weiß, wer oder was hinter diesen elektronischen Anomalitäten steckt:
Ich.
Der Mikrowellen‑Mann.
Ich verändere mich. Ich kann es fühlen. Aber ich weiß nicht genau, ob ich verrückt werde oder mich von einer Raupe in einen Schmetterling verwandle. Zum Teufel – ich habe auf den letzten Seiten fast kein einziges Wort durchgestrichen! Das bedeutet doch bestimmt, dass ich noch nicht total ausgeflippt bin! Während ich darüber nachdenke, glaube ich jedoch, dass es rein gar nichts bedeutet.
Ich habe Angst.
Ich wachse, verändere mich in – in Gott weiß was. Oder ich werde ein Fall für die Klapsmühle. Wie auch immer – ich habe Angst.
Eine Spinne hat ihr Netz über meinem Kopfkissen gesponnen.

23:50 Uhr

Ich schaue immer noch das Netz über meinem Kissen an. Ich glaube, ich fange an, das Muster des Netzes zu verstehen.
Wir reden verschlüsselt, weil wir in Rätseln denken.
Arachne … in der griechischen Mythologie verwandelt sich eine Jungfrau in eine Spinne. Arachne, die Schöpferin der Netze.
Netze.
Träume.
Die Sieben.
In meinem Kopf dreht sich alles.
Vor kurzem habe ich einen alten Liedtext gelesen, den Text eines Evangeliums, das Evangelium der Wahrheit. Da gibt es einen Abschnitt, der unter dem Namen „Alptraum‑Parabel“ bekannt ist. Ich habe ein paar beunruhigende Hinweise gefunden.
Warten Sie – ich werde Ihnen einen Teil aufschreiben:
„… Sie lebten so, als wären sie in Schlaf versunken und würden schreckliche Träume haben. Entweder gibt es einen Ort, an den sie entfliehen können … oder sie verteilen Schläge, empfangen Schläge oder sie fallen von hohen Stellen … Manchmal scheint es, als würden sie ermordet werden, obwohl sie keiner verfolgt, oder sie selbst töten ihre Nächsten, die sie mit ihrem Blut beschmutzt haben …“

Der Autor dieses Textes sah das menschliche Leben wohl als eine Art Schlaf der Ignoranz. Und Ignoranz ist die Wurzel des Bösen.
Also sollte ich auf meine Träume hören?
O Gott, ich fühle, wie die Panik mich überkommt … Ich werde verrückt – oder übermenschlich normal. Bitte, Gott, hilf mir.
Schlafen.
Der Schlaf zieht mich hinab.
Angel – Eden – hilf mir. Lass die Uhr nicht schlagen!
Ich entsage allen Dingen. Ich verbrenne meine Bücher.
Eden, ich falle.
Schlafen.
Traum
Netz



Samstag, 14. April

Mein Name ist Ryan.
Ich bin der Erlöser.
Richter und Henker in einer Person.
Der Jäger der Sieben.
Es ist, als ob man Napoleon tötet.



Sachen zur Erinnerung

Müll am Mittwoch rausstellen
Tür‑Zugangscode: 5106
Edens Geburtstag: 17. Feb.
Netzwerk‑Passwort: Howard Blackdragon